/Fragen der Produktivität
Über das Schreiben und meinen Roman Engel im Schatten des Flakturms
Was für ein schöner Moment, wenn ich auf einer Manuskriptseite unter den 400 Worten, die ich da in Stunden oder Tagen geschrieben habe, unter den Verben, Adjektiven, Substantiven Dinge entdecke, die womöglich gar nicht in einen gemeinsamen Kontext gehören: Einsteins Lambswool-pullover, eine Schwimmente, Josef Goebbels, ein Kieselstein, ein Sonnenaufgang (oder Sonnenuntergang, ganz wie Sie wollen), ein Kirchenschiff, Regentropfen, ein Billardqueue, ein Gelbhaubenkakadu, Newtons Fernrohr, ein Zwergpinscher, Klatschmohn, die Augen einer Frau, ein angebissenes Sesambrötchen. Dann weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Der Text nimmt Gestalt an. Alles passt wunderbar zusammen, Hat sich zu einem Ganzen gefügt. So kann es weitergehen mit dem Schreiben. Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein. Falls es Sie interessiert: Prosa schreibe ich sehr langsam. Ich meißle Wort für Wort für den Roman aus dem Packeis der leeren weißen Seiten, aus der digitalen Illusion eines Blatt Papieres im Format Einundzwanzigkommaneun mal Neunundzwanzig-kommasieben in der Hoffnung, am Ende bei meinen 60.000 oder 80.000 Worten nicht ein Wort zu viel und kein Wort zu wenig geschrieben zu haben. Also Wort für Wort, Satz für Satz, Zeichen für Zeichen. Du schreibst 100 Worte, um am nächsten Tag 200 wegzuschmeißen, dafür aber am übernächsten Tag 400 oder sogar 500 zu schaffen, die Bestand haben. Und immer so weiter mit dem Worteherausmeißeln. Das ist ein wenig anstrengend, aber was soll´s? Bei den Hunderttausenden von guten Schriftstellern, Dichter, Autoren, Dramatikern, Lyrikern, die es um dich herum gibt, darf dir nur eines wichtig sein: dein eigener Stil, dein eigener formaler Zugang, deine möglichst individuelle Sprache. Wie du etwas erzählst, ist entscheidend. Du erzählst keine Story, auch wenn gegen Stories überhaupt nichts zu sagen ist, im Gegenteil, aber du selbst fertigst ein Sprachwerk, Literatur. Du bist Literat, du liest Literatur, du liebst Literatur, du träumst Literatur, du kaufst Literatur, du bewertest Literatur, du schaffst Literatur. Für mich trifft folgender Satz zu: Nur Schreiben führt weiter, nur im Schreiben selbst kommt man voran. Nachdenken, planen, konzipieren, ja gerne, aber ums Schreiben kommst du genauso wenig herum, wie der Maler, der mit seinem Pinsel die leere weiße Leinwand füllen muss, wie der Bildhauer, der aus einem unscheinbaren Klotz die schönsten Dinge hervorzaubert. Also schreiben, nicht denken. Was im Schreiben auf einen zukommt, weiß man nicht. Da kann viel passieren. So geht´s mir, anderen geht es anders, keine Ahnung, ich denke da gerade mal nur an mich, denn der Dichter ist bekanntlich ein ganz und gar furchtbarer Egoist. Vermutlich sind diese Weisheiten schon millionenfach gesagt worden. Aber im Schreiben, da kann ich zaubern, an ungewöhnliche Orte reisen, die wildesten Abenteuer erleben, die tollsten Liebschaften machen, alles ist erlaubt, ich kann romantisieren, maßlos übertreiben, meine guten alten Freunde zum Leben erwecken, und da sind sie auch schon: Flaubert vor seinem Haus in Croisset, Uwe Johnson in seinem Arbeitszimmer in Sheerness-on-Sea, Newton als Vorsteher der Königlichen Münze, Thomas Mann, wie er mal wieder ein hübsches Köpfchen tätschelt, Handke in der U-Bahn nach La Defense, ich selbst am Grab von Otto Preminger am Wiener Zentralfriedhof. Doch genug geschwafelt. Noch ein paar Worte zu meinem Roman Engel im Schatten des Flakturms. Meine Hauptfigur in diesem Roman (wie auch in zwei weiteren ebenfalls fertig gestellten Romanen) ist ein namenloser Ich-Erzähler, Held unserer Zeit, Schriftsteller (das musste ja sein), Abenteurer in eigener Sache. Der Ich-Erzähler-Schriftsteller kommt von Wien nach Berlin (ja, DAS IST autobiografisch). Dort erbt er die Wohnung eines verstorbenen Freundes namens Franz Stidmann, eines Literaturwissenschaftlers, der an amourösen Geschichten aller Art interessiert war, allerdings auf diesem komplizierten Lebensfeld grandios gescheitert ist. In Stidmanns Wohnung findet der Ich-Erzähler-Schriftsteller drei Briefe von drei Frauen. Er begibt sich auf Spurensuche, auf eine tour de force rund um die Welt und durch die Welt der Literatur, er trifft Menschen, wie es sie nur in Romanen gibt und erlebt Dinge, von denen er nie zu träumen wagte. Es gibt Kapitelüberschriften: Die innere Stadt, Kurische Näherung, Der Monolith (hier taucht unter anderem plötzlich Canetti auf, der ist ja wirklich überall), Ein Land der Zukunft, Ein süßes Mädel aus der Vorstadt usw. Und immer wieder stellt sich der Ich-Erzähler-Schriftsteller „Fragen der Produktivität“. Wird er es am Ende schaffen, sein Werk zu beenden? Noch eine Anmerkung zum Titel. Ich gebe zu: Engel im Schatten des Flakturms klingt ein wenig reißerisch, vielleicht sogar nach WK II-Romanze, womit das Ganze allerdings nichts zu tun hat. Zu dem Romantitel hat mich das Zimmerdeckenfresko in unserer alten Wiener Wohnung inspiriert. Dort schwebten seit hundert Jahren diverse Engel herum, von einem unbekannten Maler geschaffen, und wenn man aus dem Fenster in den Augarten hinaus blickte, standen da die zwei großen Flaktürme. Also: Engel im Schatten des Flakturms – und Einsteins Lambswoolpullover und eine Schwimmente und Josef Goebbels und ein Kieselstein und ein Sonnenaufgang und ein Kirchenschiff und Regentropfen und ein Billardqueue und ein Gelbhaubenkakadu und Newtons Fernrohr und ein Zwergpinscher und Klatschmohn und die Augen einer Frau und das angebissene Sesambrötchen nicht zu vergessen.