/Paris, Stadt der Liebe
Von Kamelien, Kurtisanen und großen Gefühlen: Versuch über Verdis „La Traviata“
Paris, Friedhof Montmartre. Ein einsames Grab mit einem verwitterten Grabstein, auf dem sich im funkelnden Licht der frühabendlichen Sonne die Schatten der Äste und Zweige der Birke widerspiegeln. Wir stehen vor der Ruhestätte einer gewissen Alphonsine Plessis, geboren am 15. Januar 1824, verstorben am 3. Februar 1847, also im Alter von gerade einmal 23 Jahren. Der Grabstein markiert das (tragische, in jedem Fall aber zu erwartende) Ende einer ganz und gar realen Pariser Liebesgeschichte, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts zutrug und die ihre eigene Überhöhung gefunden hat durch ihren Eingang als Klassiker in die Literatur- und Musikgeschichte. Möge sie in Frieden ruhen, unsere Mme Plessis, die trotz ihrer jungen Jahre mehr Erfahrungen gemacht hat und (durch-) machen musste als so mancher von uns in einem ganzen langen Leben. Alphonsine Plessis war eine der berühmtesten Lebedamen von tout Paris. Eine Demi-Mondaine. Eine Kurtisane von Rang. Und bei all dem doch „nur“ ein junges (und bis dato im besten Sinne unschuldiges) Mädchen vom Lande und aus ärmlichen Verhältnissen, dessen Schönheit sein einziges Kapital war. Eine Frau auf der Suche nach dem Glück und (was ihr nicht sofort bewusst war) auf der Such nach der Liebe. Der großen, der einzigen Liebe. Berühmtheit erlangte die Plessis nicht nur in der Realität Pariser Salons, sondern vor allem auch in der Fiktion als literarische Figur: Als die „Kameliendame“ in Alexandre Dumas‘ gleichnamiger Roman einer großen und gescheiterten Liebe im Paris Mitte des 19. Jahrhunderts.
Paris hat seinen Ruf als Stadt der Liebe seit jeher gepflegt und nachhaltig kultiviert. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durchstreifen wir Arrondissement für Arrondissement, Quartier für Quartier, und der süße Duft frischer Madeleines evoziert in uns Gedanken an Marcel Prousts „Eine Liebe von Swann“ und entführt uns in die verschlungene Welt der Guermantes. Ob wir an der Rive Gauche entlang spazieren, auf den Champs-Élysées flanieren, auf der Wiese unter dem Eiffelturm die Frühlingssonne genießen, ob wir im Deux Magot einen Café aux lait trinken, in der Brasserie Lipp zu zweit ein Mittagsmahl genießen oder uns einfach nur im Schatten von Notre Dame ausruhen: Ganz Paris singt von der Liebe. Das war so, und das wird auch so bleiben. So pfeifen es die Spatzen von den Dächern der prachtvollen Bauwerke des Baron Haussmann, so hat es uns der Spatz von Paris, die unsterbliche Piaf, erzählt. Romane, Chansons, Opern, Filme: Paris und der Topos einer Stadt der Liebe gehören sprichwörtlich zusammen, eine Tatsache, die naturgemäß auch Einzug finden musste in die europäische Kulturgeschichte.
An diesem Ruf (wie weit er der realen Überprüfung standhalten würde sei dahin gestellt, aber wer wird schon so unromantisch sein und sich an eine solche wagen?) hatten auch Frauen wie Mme Plessis ihren nicht unbeträchtlichen Anteile. Glanz und Elend der Kurtisanen: Im Titel dieses berühmten Romans von Honoré de Balzac manifestiert sich, wie nahe beieinander Gegensätzliches zu liegen vermag. Auf der einen Seite der Glanz des Mondänen, die Welt der Reichen und Berühmten, der Mächtigen und Adligen, auf der anderen Seite die Bitterkeit der Herkunft und die ganze Traurigkeit eines vom Schicksal vorgezeichneten Niedergangs. Was uns der große Balzac in diesem Abschnitt seiner gewaltigen Comedie Humaine vor Augen führt, wird auch in Alexandre Dumas‘ „Kameliendame“ thematisiert – und ebenso in Verdis „La Traviata“: Das Schicksal einer Frau, die mehr vom Leben will, die alles will und am Ende nichts bekommt, einer Frau, deren Wunsch nach echter Liebe sich nicht erfüllen will, weil dies Konventionen, Wertvorstellungen und die Haltung einer Gesellschaft, die den diskreten Charme der Bourgoisie zum Nonplusultra verklärt, nicht zulassen wollen.
Wir schreiben das Jahr 1852. Im Paris Théâtre du Vaudeville hat auch Guiseppe Verdi Platz genommen, der seit den sensationellen Erfolgen seines „Nabucco“ und seines „Rigoletto“ als das Operngenie schlechthin gefeiert wird. Man gibt „Die Kameliendame“. Den Roman, der als Vorlage für jene Theaterbearbeitung diente, hatte Verdi schon 1848 mit Begeisterung gelesen, kurz nach seinem Erscheinen. Sein Verfasser, Alexandre Dumas, der gleichnamige Sohn des Schöpfers von „Die drei Musketiere“ und „Der Graf von Monte Christo“, hatte mit der „Kameliendame“ einen Beststeller geschaffen, wie wir heute sagen würden. Der Roman wurde von Lesern wie von der Kritik bestens aufgenommen (nie wieder sollte Dumas so erfolgreich sein). Dadurch motiviert, machte sich Dumas auch an eine Bühnenfassung, die wie der Roman ein voller Erfolg werden sollte und für die Menschen jener Zeit eines ihrer beliebtesten Theaterstücke war. Unterhaltung war gefragt, und nicht nur das Theater erfreute sich großer Beliebtheit, sondern vor allem auch das Musiktheater, die Oper. Die Nachfrage nach immer neuen Opernwerken war gewaltig, der „Opernbetrieb“ ein gutes Geschäft – und Verdi einer seiner fleißigsten Zulieferer mit immer neuen Kompositionen und Produktionen. Seit er Dumas‘ Roman gelesen und das Stück gesehen hatte, dachte Verdi daran, diesen Stoff auch für eine seiner Opern zu verwenden. Die Frage war allerdings: Sollte er ausgerechnet eine Oper rund um die Liebesgeschichte einer Pariser Kurtisane dem La Fenice in Venedig anbieten, wo man Verdi um ein Werk für die Karnevalssaison 1853 gebeten hatte? Verdi zögert zunächst: Eine Kurtisane im Mittelpunkt einer Oper, das verstieß nicht nur gegen die seinerzeitigen Konventionen, sondern künstlerisch und formal auf die Oper bezogen vor allem auch gegen „dramaturgische Standesregeln“, nach der die Hauptfigur einer Oper ein moralisch einwandfreies Vorbild darstellen musste, also eine Idealfigur zu sein hatte, und das ließ sich von einer Dame wie jener mit den Kamelien nun nicht gerade behaupten. Hinzu kam, dass Stoffe, die in der Gegenwart angesiedelt waren (wie seinerzeit „Die Kameliendame“ als aktuelle Neuerscheinung am Markt), für die Opernwelt verpönt waren. Doch glücklicherweise gab Verdi seine zögerliche Haltung auf und komponierte – als Auftragsarbeit für das La Fenice – die Oper, deren Handlung er (den erwähnten formalen Anforderungen folgend und um die Oper vom populären Theaterstück abzugrenzen) in das Jahr 1700 und nach Italien verlegte und ihr den Titel „La Traviata“ (übersetzt in etwa „Die vom richtigen Weg Abgekommene“) gab.
Am La Fenice war man natürlich daran interessiert, an jenen großen Erfolg anzuknüpfen, den man 1851 mit Verdis „Rigoletto“ hatte. Jetzt, zwei Jahre später, setzte die Direktion erneut auf die produktive Zusammenarbeit mit dem La Fenice-„Hausautor“ Francesco Maria Piave – und auch Verdi war über diese Möglichkeit sehr erfreut, schätzte dieser doch Piave sehr. Auf für spätere Werke Verdis, zum Beispiel „Macbeth“ oder „Die Macht des Schicksals“, fungierte Piave als Librettist. Unter Fachleuten gilt Piaves Umarbeitung der „Kameliendame“ in „La Traviata“ als Piaves beste Arbeit, wohl auch deshalb weil Piave sich für sein Libretto nicht nur auf eine epische Fassung, den Roman, stützen konnte, sondern auch auf eine dramatische, nämlich die von Dumas selbst geschaffene Bühnenfassung, was die Arbeit des Autors durchaus erleichtert haben dürfte.
Die Vorlage für die Originalfigur der Kameliendame war jene Alphonsine Plessis, die 1847 auf dem Friedhof Montmartre ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Als Pariser Kurtisane legte sie sich den Künstlernamen Marie Duplessis zu und suchte ihr Glück bei den Reichen und Mächtigen dieser Zeit. Alexandre Dumas war zwar weder reich noch mächtig, sonder nur ein mittelloser Dichter, aber gerade mit ihm entdeckte Alphonsine Plessis alias Marie Duplessis die wahre Liebe. Zum Glück für die Nachwelt, denn aus dieser Liebe erwuchs Dumas‘ großer Roman über jene Dame, die sich von ihren Verehrern ausschließlich Kamelien schenken ließ, weil diese botanische Schönheiten nicht dufteten und deshalb für die kränklich-empfindsame Frau als einzige Pflanzen verträglich waren.
Die Liebe zwischen dem Romancier und der Kurtisane währte nur kurze Zeit: Die Beziehung scheiterte, weil die „arme Alphonsine“ nicht bereit war, ihr luxuriöses Leben als vermeintliche „reiche Marie“ aufzugeben. Schließlich starb sie aufgrund der körperlichen Auszehrungen, die ein solches Leben mit sich brachte, an den Folgen der Schwindsucht. Als literarische Figur Marguerite Gautier sollte sie allerdings unsterblich werden, denn Alexandre Dumas (im Roman Armand Duval) verarbeitete den Verlust dieser großen Liebe zu einem der meistgelesenen Werke der Weltliteratur.
In der Pariser Realität der damaligen Zeit war Marie Duplessis zwar eine der bekanntesten Kurtisanen, allerdings hatte sie viele „Kolleginnen“, die ebenso wie sie versuchten, als Gespielin reicher und mächtiger Männer ein besseres Leben zu finden und eine entsprechende Karriere zu machen. Eine von ihnen war eine gewisse Anna Deslions. In den Tagebüchern der legendären Verlegerbrüder de Concourt lesen wir: „Wir gehen in die Avenue des Champs-Élysées nahe beim Arc de Triomphe zur Besichtigung der zum Verkauf stehenden Möbel der Wohnung von Anna Deslions, der berühmten Mätresse zweier Zelebritäten: Prinz Napoleon und Lambert-Thiboust, jener Dirne, die so lange unsere Nachbarin war, und die aus dem vierten Arrondissement unseres Hauses zu diesem Prunk, zu Reichtum und blendendem Ansehen aufgestiegen ist! Alles in allem sind uns diese Dirnen gar nicht so unangenehm. Sie heben sich ab von der Eintönigkeit, der Rechtschaffenheit, der gesellschaftlichen Ordnung, der Vernünftigkeit und Regel. Sie bringen ein bißchen Torheit in die Welt. Sie teilen Ohrfeigen mit Banknoten aus. Sie sind die losgelassene, nackte, ausschweifende und siegreiche Laune inmitten einer Welt freudloser Notare und Sachwalter. In ihrem Heim zeugt alles vom grossen Prunk einer Unkeuschen: das geträumte und von einem Dekorateur realisierte Paradies, mehr nicht.“(1)
So oder zumindest so ähnlich müssen wir uns das Leben unserer Heldin vorstellen: „Geliebt und begehrt von den Mächtigen und Klugen, ausgestattet mit prächtigen Residenzen und enormem Einkommen, in der Wahl der Männer von niemandem bevormundet, beherrschten Kurtisanen einen märchenhaften Freiraum der Weiblichkeit.“ (2)
Doch zurück zur „Kameliendame“ – und zur „La Traviata“. Verdi und sein Librettist Piave veränderten für ihre Oper Schauplatz, Zeit und Namen der Figuren: Aus dem Paris des 19. Jahrhunderts wurde das Venedig im Jahre 1700, aus Armand Duval wurde Alfredo Germont, aus Marguerite Gautier wurde Violetta Valéry. Und im Unterschied zum Theaterstück ließen Piave und Verdi etliche Rollen und Szenen weg, so dass man sich auf drei Hauptstimmen konzentrieren konnte, wobei natürlich die Rolle der Violetta Valéry am bedeutsamsten war. Das „Casting“ für diese Rolle (wie man heutes sagen würde) war ein dementsprechend sensibles Thema. Für die Uraufführung am 6. März 1853 im La Fenice setzte die Theaterdirektion als Primadonna die Sopranistin Salvini-Donatello durch, gegen den Willen von Verdi, denn der wusste, dass die Salvini-Donatello mit ihrer kraftvollen Ausstrahlung und Stimmgewalt gerade als schwächer werdende und am Ende sterbende Violetta unglaubwürdig werden musste. Verdi behielt recht, das Publikum quittierte die unüberhör- und unübersehbaren Dissonanzen zwischen kraftvoller Diva und kränkelnder Figur mit Gelächter. Später dann, mit der richtigen Besetzung, feierte „La Traviata“ wahre Triumphe, in unserer Zeit unter anderem mit Maria Callas als Violetta Valéry.
Paris Friedhof Montmartre. Inzwischen senkt sich die Dämmerung herab, und wir müssen Abschied nehmen vom Grab der Alphonsine Plessis. Mit einem stillen au revoir verlassen wir den Friedhof, bereit uns in das abendliche und nächtliche Treiben von Paris zu stürzen, jener Metropole, die gleichermaßen ideal wie gefahrvoll zu sein scheint für die leidenschaftlich Liebenden dieser Welt.
1 Goncourt, Edmond und Jules de, „Journeaux 1851-1895“, Hg. Robert Ricatte, 3 Bde., Paris 1989 (Laffont)
2 Andreas Zielcke, „Die ehrbaren Dirnen – Kurtisanen als Wegbereiterinnen der freien Liebe“, Hamburg 1995
(Auftragsarbeit für das Kulturprogramm von Siemens Österreich im Rahmen der Salzburger Festspiele)