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Die Grenze verläuft exakt neunundachtzig Zentimeter von meinem rechten Ellenbogen entfernt. Zwischen hier und der anderen Seite gibt es ein sechzig Zentimeter breites Niemandsland. Auch eine Art Todesstreifen existiert: Er besteht in der Hauptsache aus wild herabhängenden Kabelsträngen und in das Feldgrau des Fußbodens integrierten Versorgungsschächten mit Steckdosen und ISDN-Buchsen. Ich habe um 0907 MEZ das Feuer eröffnet und die Gegenseite mit einem heftigen Ein-Finger-Stakkato auf der Tastatur meines PC verunsichert. Die Maßnahme hat fürs erste Wirkung gezeigt, war aber letztlich nicht nachhaltig. Um 0914 habe ich dann meine Strategie modifiziert und die Feindbeschallungsanlage eingesetzt, indem ich mit extremer Lautstärke in die mobile Sprecheinheit meines Kommunikationssystems gesprochen habe, Auf diese Weise ist es mir schließlich gelungen, Jerry aus seiner Stellung zu vertreiben. Jerry hat heute übrigens wieder seinen Kampfanzug an: hellblaues Hemd mit weißem Kragen des Labels „Arschkriecher“, dunkelblaue Krawatte, dunkle Hose mit äußerst scharfkantigen Bügelfalten, dunkles Tarnsakko.

Aber der Reihe nach.

Heute Morgen, um 0815, erhielten wir, die meisten noch müde vom Einsatz des Vortages, das Briefing und wurden in Marsch gesetzt, einzeln, aber auch in Teams. Eine Eliteeinheit vom Marketing wurde sofort an den gefährlichen Point of Purchase abgeordnet, ein harter Job, ich beneide die Typen wirklich nicht, Apokalypse now.

Ich halte seitdem die Stellung und achte auf die kleinste Bewegung hinter den Linien, vor allem habe ich Tracy und Kimberly im Fokus, die heute beide wieder hautenge Camouflage-Shirts tragen, die sehr gut zu ihren – in diesem Abschnitt zwingend vorgeschriebenen – schafthohen Combatstiefeln aus schwarzem Lackleder passen.

Der Tagesbefehl bestand ansonsten im Wesentlichen aus den üblichen Zahlencodes: Jack „Die Haubitze“ Brubaker stand am Whiteboard und verdeutlichte uns die Strategie. Im Westen nichts Neues, sagte Brubaker, die Verluste sind nach wie vor immens, vor allem im ersten Quartal. Warum machen wir eigentlich keine Gefangenen mehr? fragte Linda Schelskow von der Revision, die wohl versuchte witzig zu sein. Von Brubaker gab es darauf natürlich keine Antwort.

Dann hieß es klar machen zum Gefecht, und wir gingen auf unsere Positionen. Das kann ja heiter werden, sagt Jerry, als er an seinem Schreibtisch (er steht rechts neben meinem) Platz nimmt und den Rechner hochfährt.

Kurz danach, gegen 0853, nimmt sich Rob Eagleburger vom Sales seine Leute zur Brust. Die Wege zum Ruhm, sagt der alte Sales-Profi, sind hart und steinig, wer sich bei uns einen Orden verdienen will, der muss richtig ran, der Wettbewerb kennt keine Gnade. Eagleburger erteilt den Auftrag, alles über die Pläne der Gegenseite herauszufinden, wenn möglich bis gestern. Zu Eagleburgers Stoßtrupp gehören ein paar ganz ausgekochte Typen: Charlotte Henreid, eine Intelligenzbestie, die auch die komplexesten Content-Technologien aus dem Effeff kennt, Jason „Die Laus“ Blumberger, Spezialist für verdeckte Operationen im Rahmen der Marktbeobachtung und Rick Konschalewsky, dem ich persönlich nicht am POS begegnen möchte.

Von der Versorgungseinheit gab es während des Briefings die üblichen ungenießbaren Warmgetränke und ein paar Sandwiches, von denen ich mir eines für später in mein Büro mitgenommen habe, wo ich jetzt den rechten Ellenbogen auf die Schreibtischplatte setze und die Stirn in Falten lege. Ich beobachte Jerry auf der anderen Seite: Er hat es sich in seiner Zone bequem gemacht und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Die Krawatte hängt über seiner Sessellehne. Jerry starrt auf den Bildschirm, als ob es da etwas Weltbewegendes zu entdecken gäbe. Ich forme aus dem Sandwichteig kugelförmige Intensivgeschosse und feuere sie in Jerrys Richtung, der sich davon allerdings nicht weiter stören lässt.

Anschließend widme ich mich der strategischen Planung, werfe ein paar Grafiken auf die PPT-Folien und mache ein wichtiges Gesicht. Gelegentlich meldet sich das Kommunikationssystem, und ich muss einen kurzen Lagebericht geben. Aye, Aye, Sir!

Um 0929 vertrete ich mir ein wenig die Beine und nutze die Gelegenheit, den Flurfunk abzuhören. Es geht das Gerücht, dass unser größter Wettbewerber zu einem Präventivschlag ausholen wird und einen Zangenangriff auf unsere beiden schwachen Flanken plant. Wahnsinn, sage ich, pfeife mir Mut zu und verdrücke mich schnell wieder.

0959: Ich gehe in die Caféteria und stoße dort auf Kimberly, die mir mit dem Befehl „Pronto!“ eine codierte Sales-Tabelle in die Hand drückt, die ich bis zum frühen Nachmittag durchsehen soll. Das ist ja alles kryptisch! rufe ich noch, doch Kim zuckt nur grinsend mit ihren camouflagebedeckten Schultern.

Um 1051 kommt Benjamin de Vries (einer der Mafos) an meinen Platz und klärt mich über einen Vorfall auf, in dem Sales-Manager Ross Kaluba verwickelt war. Offenbar war der gute Ross in eine honey trap des Wettbewerbers geraten und nur mit einer (im Übrigen geschmacklos gemusterten) Unterhose und stockbesoffen in einer sündteuren Suite des Jefferson Park Inn geschnappt worden. Es geht um Big Data, flüstert mir Ben de Vries verschwörerisch ins Ohr. Die Sache ist so ernst, sagt Ben, dass der CEO sämtliche Truppenteile überprüfen will, die unmittelbar an der Sales-Front tätig sind. Da werden Köpfe rollen. Scheiße, sage ich und kaue an dem Drehbleistift, den ich für ausgezeichnete Spionagedienste im Interesse der Abteilung geschenkt bekommen habe. Bei der Frau, der Kaluba auf den Leim gegangen war, soll es sich um einen Vice President von P G & C handeln, verdammt unangenehm das Ganze, vor allem wenn man bedenkt, dass dieser Idiot Ross erst vor vier Wochen geheiratet hat. Der wird wohl in der Etappe hängen bleiben, sage ich.

1114: Inzwischen wurde die Kampfzone ausgeweitet. Lagebesprechung in dem „Kleine Hölle“ genannten Besprechungsraum im 16. Stock. Ich stehe vor dem bauchig glucksenden Trinkwasserspender und zapfe mir einen XXL-Becher der abgestandenen Brühe. Die Hitze in diesem Abschnitt ist unerträglich. Hinzu kommt, dass hier oben ein Teil der Sanitäranlagen ausgefallen ist. Die von Facility Management bekommen das einfach nicht gebacken.

Bei der Lagebesprechung herrscht Alarm. Wir erfahren, dass eine Aufstockung der Truppen in absehbarer Zeit nicht möglich ist, und wir noch härter werden kämpfen müssen. Außerdem haben wir mit einer massiven Offensive in den Regionalmärkten zu rechnen, konstatiert Donald Larosse, Head of HR, Kampfname Caruso.

1200: Versuche weiter die Sales-Tabellen zu entschlüsseln, ohne Erfolg. Ich weiß, dass in der Sektion F (4. Stock) ein paar Experten arbeiten, die vielleicht in der Lage sind, das Chaos zu dechiffrieren. Aber die werden bestimmt Meldung machen und mich verpfeifen, und das wär´s dann gewesen mit der Prämie.

Später. Jerry hat nun seinerseits damit begonnen, mich mit Drohnen aus zerknülltem Papier („Halbjahresbericht – Draft“) zu bombardieren. Er schießt über die Mauer hinweg, die ich aus unverständlichen Fachbüchern und veralteten Manuals errichtet habe. Außerdem hat er verbotenerweise einen Qualmangriff („Marlboro light“) durchgeführt. Das wird mir der gute Jerry büßen müssen (sollte mir irgendwann die richtige Gegenstrategie einfallen).

Zum Mittagessen fahre ich hinunter ins Kasino. Der Küchenbulle hält mir den vollen Teller hin (Gummiadler mit Pommes), und ich nicke dankbar, was bleibt mir anderes übrig? Zu Tracy und Kimberly kann ich mich auf keinen Fall setzen, aber unsere Truppe ist groß: Ich entdecke Leslie Crosky und Alan Dubel, alte Hasen mit zertifizierter USP-Expertise. Wie gern lausche ich ihren Geschichten aus den guten alten Tagen des Vertriebs!

Während wir den Mampf hinunterschlingen, erfahre ich von dem Debakel im Verkaufsgebiet West, wo die Front auf der ganzen Linie zusammengebrochen ist. Die haben noch verzweifelt versucht, da raus zu kommen, sagt Dubel und fuchtelt mir mit der Gabel vor der Nase herum, aber sie hatten keine Chance. Ein schwerer Verlust, sagt Crosky, traurig, traurig, und nimmt einen kräftigen Schluck von seiner Coke. Die Verpflegung hier könnte wirklich besser sein, sage ich und weise auf meinen Teller. Wann können wir denn mit Nachschub rechnen?

Um 1400 müssen wir strammstehen: Ein Sondertrupp vom Headquarter ist eingeflogen worden und hat im großen Konferenzraum („Dschungel“) Aufstellung bezogen. Die Typen sind geschniegelt und kampferprobt: stahlgraue Augen, fester Händedruck, gegelte Frisuren, Pokerface, breite Schultern. Die Kerle stecken in teuren Kampfanzügen und tragen Krawatten, die einen halben Monatssold kosten. Sie gehören zum Kommandostab des Global Management Boards und wirbeln überall Staub auf. Die Typen wissen sich gut zu tarnen, sage ich zu Jerry, der sich soeben neben mich gesetzt hat und nervös in einem Stapel Papiere blättert. Wie üblich sind weder er noch ich vorbereitet. Der Anführer der Truppe, Brian Schmidtman, bringt sich sofort in Stellung und schmettert meine kurze Präsentation ab. So kann man nicht gewinnen! donnert er durch den Raum. Ihr müsst euch mehr ranhalten! Dann hat Gloria ihren großen Auftritt, die PA vom CEO, und Schmidtman ist plötzlich gut gelaunt. Kein Wunder, bei der Granatenbraut. Wetten, dass der sie später auf einen Drink einlädt, flüstert mir Dubel ins Ohr. Er sollte recht behalten. Schmidtman und seine Jungs machen sich noch eine Weile wichtig, präsentieren die neuesten Strategien in Sachen B2B und Content. Die Parole für die nächste Woche wird ausgegeben: ASAP! Dann müssen die smarten Typen auch schon zum nächsten Termin. Wir singen noch ein Kampflied, dann gehen Jerry und ich einen Kaffee trinken.

Um 1539 kommt von den Kreativen aus der Propagandaabteilung Code ALK, und wir treffen uns alle im Büro von Dubel, wo schon ein paar Pullen Whisky bereit stehen, die Dubel nach der letzten Weihnachtsfeier bunkern konnte. Ein Art Director mit horniger Brille beschafft Eiswürfel. So lässt es sich aushalten, sage ich zu Dubel, am besten, wir gehen hier in Deckung bis zum Feierabend. Soll sich doch die Kavallerie vom Customer Experience um den ganzen Scheiß kümmern.Wir dachten schon, die Lage hätte sich entspannt, da schneit Jack Siegel herein und fährt ein ganz großes Geschütz auf: Meta Research! Dafür werden offenbar ein paar Freiwillige gesucht, die Operation heißt Desktop und ist top secret, erläutert Siegel. Der Aufruf, sich für dieses Himmelfahrtskommando freiwillig zu melden, veranlasst Jerry und mich sofort auf Tauchstation zu gehen. Bei den Mädels von der Digitalisierung bekommen wir zur Stärkung Restbestände von einer Geburtstagtorte.

Später erfahren wir, dass auch vom Sales-Abschnitt Nord erschreckende Meldungen kommen: Verluste ohne Ende. Immerhin nähert sich vierbeinige Unterstützung meinem Schreibtisch, Killer, der braune Labradoodle des Praktikanten, der morgen seinen letzten Tag hat. Killer hat ein knuffiges Näschen für die Situation und nimmt gleich die Fährte auf. Wir sollten uns für Guerillamarketing entschließen, sagt Crosky, das hilft immer.

1700: Endlich konnte ich diese verdammten Sales-Codes entschlüsseln. Ich rufe Kimberly an, um ihr das Ergebnis mitzuteilen. Die gibt mir gleich die Anweisung, sofort in ihr Büro zu kommen, um weitere Befehle für heute und den morgigen Tagesabschnitt entgegen zu nehmen. Ich mache mich auf die Socken und fahre in den 8. Stock hinauf, wo ich gleich in eine heftige Rangelei zwischen einigen Zauselbärten von der Propaganda und den Mafos gerate: Es geht um ein paar Keywords, der gesamte Verlauf der Kampagne ist in Gefahr. Um nicht zum Kollateralschaden zu werden, husche ich zu Kimberly ins Büro, die gerade dabei ist, einem Neuen den Kopf zu waschen, Der Kerl hat sich offenbar unerlaubt von der Truppe entfernt. Der Deserteur erhält einen Verweis und muss zwei Wochen lang für Kim den Kaffee holen (Heiß! Schwarz! Zwei Stück Zucker! Capito?!). Selbst dieser beschränkte Novize dürfte jetzt begriffen haben, dass Kimberly ausgesprochen nahkampferprobt und berühmt für ihre Nachteinsätze ist. Noch einmal wird es der Typ nicht wagen, vor einer wichtigen Sitzung einfach zu verduften. Hasenfuß!

Draußen, vor der Glasfassade unseres Bürotowers, weitet sich ein herrlicher Frühsommerabend. In den Gärten hocken sie jetzt bei Bier und Hugo unter hübschen Kastanien, doch wir sind nach wie vor interniert und haben keine Ahnung, ob und wann wir je wieder hier raus kommen.

Ich greife nach meiner Unterlagenmappe und fahre in mein Stockwerk hinunter. Dort hämmert es bereits aus allen Rohren: Team-Managerin Karen Brockmeyer hat erfahren, dass die Operation an den wichtigsten Points of Sales ins Stocken geraten ist. Es fallen Begriffe wie „Versager“ und „Lahmärsche“. Karen ist stinksauer und sucht den Schuldigen. Jerry zeigt auf Dubel, ich auf Crosky, Crosky auf mich, Dubel auf Jerry, der Praktikant auf seinen Labradoodle (Killer): Wieder mal will´s keiner gewesen sein. Volle Deckung! rufe ich und stürze mich auf das WC, wo Donald Larosse aka Caruso gerade dabei ist, sich zu erleichtern. Kein Witz, sagt Larosse zu mir, die vom Hauptquartier werden euch ganz schön die Hammelbeine lang ziehen wegen der Sache, gut dass ich nichts damit zu tun habe, so long, noch einen schönen Abend!

Eigentlich sollte um 1800 das Signal zum Aufbruch ertönen, doch bis auf das Klacken der Tastaturen und das Zischen des Kaffeeautomaten ist nichts zu hören. Alle bleiben in ihren Stellungen. Vielleicht liegt es daran, dass die Finance ein paar Rechnungen mit uns offen hat und noch schnell eine Besprechung zum Thema Spesen anberaumen will. Fragen Sie am besten Jerry, sage ich zu Donna Henderson, der kennt sich mit der Sache aus. Ich schwinge meine Unterlagenmappe und verdufte mit den Worten „Der Boss wartet drauf“.

In der „Kleinen Hölle“ – ich wollte mich vorbeischleichen, doch Eagleburger hatte seinen Zeigefinger gnadenlos auf mich gerichtet –  präsentiert man uns dann doch noch eine Landkarte mit den aktuellen Entwicklungen. Mannomann: Das sieht richtig übel aus.

Kurz vor 2000 wage ich einen Ausfall und versuche durch einen Nebeneingang aus unserer Etage zu entkommen. Doch Dullenburg, Rick Dullenberg, General Manager Operations, fängt mich ab und setzt mich in seinem Büro fest, wo bereits Eagleburger wütend auf und ab geht. Die Foltermethoden, die Dullenberg und Eagleburger anwenden, sind ebenso grausam wie subtil. Man droht mir mit Schlafentzug durch Überstunden, sollte ich das Projekt nicht asap wieder auf Schiene kriegen. Außerdem werden die Gespräche über eine Erhöhung meines ohnehin nicht gerade üppigen Salärs bis auf Weiteres ausgesetzt. Die IT ist eingebunden, sagt Dullenberg, und ich kann dazu nur Jawoll! sagen.

Um 2208 wende ich mich an Jerry und Crosky und buchstabiere FOXTROTT ECHO INDIA ECHO ROMEO ALPHA BRAVO ECHO NOVEMBER DELTA – FEIERABEND – ich wiederhole FOXTROTT ECHO INDIA ECHO ROMEO ALPHA BRAVO ECHO NOVEMBER DELTA – FEIERABEND!

Dann fahre ich mit dem Lift hinunter in unser Fahrzeugdepot. Ich verfüge über eine mobile Einheit in silbergrau Metallic mit 130 PS. Das Ding ist schon ein paar Jahre alt, aber es tut noch seinen Dienst.

Endlich kann ich nach Hause. Morgen ist bestimmt wieder Großkampftag. Angeblich sollen wir sogar Unterstützung von Verbänden aus dem Global Network bekommen. Mal sehen, was die so drauf haben.

(Mein Beitrag zum 22. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb: Thema „Frontberichte“, nachzulesen ist der Text auch auf www.storyapp.de)